Zawlazaw Kawlakaw

Tension belts, chipboard, varnish, latex paint, hockey sticks; installation at the Studiogalerie of the Kunstverein Braunschweig;
dimensions: 360 x 360 x 310 cm, 2002

Zwischenwelt und Welttheater

„Mich folterte bis zur Unerträglichkeit der Traum von einem engen und glitzernden Labyrinth; im Mittelpunkt war ein Krug; fast berührten ihn meine Hände, meine Augen sahen ihn, aber so verschlungen und verzwickt waren die Bogenlinien, daß ich wußte, eher würde ich sterben als ihn erreichen.“ Jorge Luis Borges Mit den Strategien eines Kartographen, der Präzision eines Ingenieurs und dem Erkundungsgeist eines Archäologen entwirft, modelliert und vermißt Andreas Gehlen allegorische Meta-Landschaften, Stätten eines rätselhaften, universalen Welttheaters. Er führt uns zu Forschungsorten, in Laboratorien und zu in der Tiefe versunkenen Apparaturen. Sie zeugen von eigenartigen Linienwesen und geometrischen Modellen, sind Konstruktionen einer verborgenen Welt, die er auf son-derbare Weise auftauchen und wieder verschwinden läßt. Möglich, daß sie miteinander verbunden sind in einem Netz, das auf keiner Karte verzeichnet ist. Und doch sind sie keine Trugbilder und keine irren Spiegellabyrinthe, sondern unbeherrschte Orte, die ihre eigenen Phantasmen beherbergen.

In der Studiogalerie erhebt sich aus einem schollenartig berstenden Fundament eine schwerelos erscheinende Anordnung von roten Linien. Als fixierte Bewegungsspuren markieren sie die dreidimensionalen Konturen eines Zylinders. Die der Fläche entwichenen Linien rotieren in einem geschlossenen System und beschreiben im Inneren des Zylinders einen an seiner Spitze gespiegelten Kegel. Im Inneren des Kegels verlieren sich die fixierbaren Anhaltspunkte. Verwirrende Perspektiven, Überlagerungen und Verdopplungen bilden sich im Raum ab. In der Wahrnehmung verdichten, verselbständigen und verdinglichen sich zunehmend die Koordinaten und lassen sich nur noch mühsam orten. Während sich von außen gesehen der Entwurf eines konkreten, statischen Raumes darbietet, vermittelt sich von innen der illusorische Ausblick in eine potentielle Ferne. Ein Ort der Kontemplation, vielleicht auch ein Ort, der für etwas steht, was gar nicht ist, und dem die Möglichkeit der Umkehrung der Dimensionen, des Umdrehens von Inhalt und Gefäß wie auch der Vereinigung von Symmetrie und Chaos, von spartanischem Rohbau und ausufernder Assoziation innewohnt.

Andreas Gehlen beläßt den Materialien ihren eigenen Charakter, er kaschiert nicht, sondern akzentuiert ihre Beschaffenheit. Reste von Spanplatten, Spanngurte, Kabelbinder, vorgefundene Neonbeleuchtung und Eishockeyschläger verknüpft er zu einem harmonischen Ganzen – wohl wissend, daß die Harmonie die Diskontinuitäten und Brüche beherbergt, die ein sanftes, bedingungsloses Entgleiten in die Illusion verwehren. Die Klebestreifen auf dem Boden zeugen von einem verworfenen Grundriß. Sie sind Spuren des Entstehungsprozesses. Es schwingt auch hier die Verweigerung mit, Skulptur ausschließlich als Moment von Statik, Monumentalität und Dauerhaftigkeit zu begreifen. Doch sind diese Markierungen auch Indizien einer Erzählung.

Durchaus möglich, daß der Planet erst vor wenigen Minuten erschaffen wurde, ausgestattet mit einer Menschheit, die eine illusorische Vergangenheit „erinnert“. In Andreas Gehlens künstlerischer Auseinandersetzung mit Geschichte ist der Entstehungsmythos Zweig einer phantastischen Erzählung, die sich aus der Addition gegenwärtiger und vergangener Momente zusammensetzt. Andreas Gehlen sucht nicht die Wahrheit, ja nicht einmal die Wahrscheinlichkeit. Er sucht das Erstaunen. Er konzipiert seine Installationen als begehbare Matrix, die den Betrachter in ungesicherte Zeit- und Raumerfahrungen einbindet. Wir sind abwechselnd Zwerge und Riesen, Giganten und Pygmäen, Neugeborene und Greise in diesen.

Der alttestamentarische Titel der Installation „zawlazaw, kawlakaw“ ist mehr als eine ironische Referenz an den Arbeitsprozeß. Die literarischen und kunsthistorischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Verweise sind bei Andreas Gehlen gleichsam die Erdkunde, die ausführliche Beschreibung aller Orte, die wohldurchdachte allgemeine Topographie all dessen, was wir in der metaphorischen und in der sichtbaren Welt kennen. Sie dienen als Routen zwischen diesen Welten.

Seine Installationen sind Orte der Möglichkeiten, Zwischenräume, Ideengefäße und Zentren von Stürmen. Sie sind Gedankengebäude und Vorstellungsräume, Erzählgerüste und Szenarien. Die Szenarien bergen Gedanken, die sich entwickeln, erweitern und verzweigen. Ihre Ordnung ist gleichsam eine Weltkarte, ihre besonderen Ordnungen sind gleichsam besondere Karten von Provinzen, Landschaften und Königreichen. Wir betreten sie, als würden wir mit geschlossenen Augen in eine Erzählung eindringen… Es ist hell und ruhig in diesen Räumen…

Peter Gorschlüte

 

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